// Ohne “IMPORTANT NOTE” kein Happy Place.
- Michael Schuster
- 11. Mai
- 7 Min. Lesezeit

Abi-Euphorie, die durch die lernunwilligen Flure flirrt, hat eine Verve, die dem Schulalltag einen flammende Schweif anheftet und ihm die Tristesse der 3. Stunde zu nehmen weiß.
Das wird hier aber gar nicht Thema sein, also darf der Einstieg direkt wieder vergessen werden.
Nach dieser ganzen Attitude Scolaire, war die Stimmung unten. Weiter unten und Dante hätte noch nen weiteren Ring an sein Inferno ranknüpfen müssen.
Von oben kam Sonne, von in mir Flegmatique und vom ganzen Rest eben eine törichte Schwafelei über Politik und Weltgeschehen, was sich doch inzwischen sowieso keiner mehr freiwillig antut.
Die Zerschundenheit meiner Gedanken legt sich schmerzvoll auf den Tag. Wenig durchkommen, keine Einsichten.
Durch die rauschenden Fichten meiner zerschlagenen Motivation fallen vereinzelt kleine Lichtknospen herunter. Blühen, verglühen, sind weg.
Wieder alles dunkel. Nur das Rauschen ist zu hören und davon hab ich jetzt wirklich genug gehört. Neue Windungen müssen angesprochen werden.
Gedanken an die Cry-Session steigen auf. Eine Hypnose.
A empfiehlt mir die Gruppenhypnose im SHA-LA Studio im Prenzlauer Berg, Kastanienallee.
Das Studio hat Wiedererkennungswert, gab es die 4. Cry-Session ja bereits im Kreuzberger Studio in The Curch.
Ich kratz mich hinterm Ohr, zerdenke das Leben mit dem Fruchtfleisch, dass da oben im Kopf schwimmt und mach mir ne Dose Kokosmilch auf. A man's gotta eat. Hab ich mal wo gehört. Klang smart und seitdem befolge ich den Kram recht konsequent. Zwiebeln, Karotten, Zucchini in die Pfanne, dann die weiße Suppe hinterher. Alles noch würzen und Honig rein. Immer Honig rein, in fast alles, so falsch kann das ja gar nich sein.
Reis is schnell gemacht und dann werden Essen, Löffel und Mund eins. Immer wieder, bis die Schale leer is.
Antworten gab's dadurch aber auch keine, also doch vielleicht mal Hypnose. USC-App schaltet sich wieder mal als Mediator zwischen mich und irgendeine Heilsbringung. N Muster wird langsam erkennbar und da halte ich es wie mit Honig: so falsch kann das ja gar nich sein.
“Group Hypnosis”, Donnerstag, 21h00-22h00.
Ich reib mir die Augen.
Kurz vorher hatte ich noch vom Hörbuch “Im Grund gut” zu “Blues Classics” transponiert. Muddy Waters zupft mir jetzt, mit seiner Semi-Akustik und “I'm your Hoochie Coochie Man” das Stirnrunzeln direkt aus der Visage.
Kopf is also bereit und liest über die Kursbeschreibung: “Zazi [..] guides participants not only into deep relaxation but also to explore their inner landscape in a heart-centered way and to safely bring the contents of their unconscious mind - where the roots of all our limitations lie - into consciousness.”
You had me at Zazi — also “Buchen”.
Das Majuskelungetüm “IMPORTANT NOTE”, das unter all den Kurserklärungen steht, verliert sich in der Euphorie und im Groove von “Leaving Trunk”. Performed by Taj Mahal.
Ne Woche später, es dunkelt schon, räubere ich, auf meinem Hercules, die Swinemünder Str. runter. Laternen sind an und verschrecken die ganzen Schatten recht unflätig.
Bernauer durchkreuzt, Arkonaplatz passiert. Von da dann links, rechts, links und thanks to Orientierung und Google Maps (mostly Maps) stehe ich dann auch schon auf der Kastanienallee.
Die Neonlicht-Verbiegungen am Fenster befehlen allen: “Flow like you mean it”.
Das Fahrrad erstmal stadt-tauglich angeschlossen, fließe ich ins Studio. App bereit, weil der QR-Code schon gierig auf seinen Scan wartet. An der Wand hängt eine silbrig-amorphe Masse und so ähnlich fühl ich mich auch: art imitating life at its best. Gleichzeitig is da jetzt die Hoffnung, dass dort nach der Session ne fein gesäuberte und mental wohl-adjustierte Adonis-Statue hängt. Here's to Irrationalität
Wieder gibt es Matten, wieder gibt es Decken, wieder gibt es mich.
Und am Ende des Raums gibt's ne freie Stelle. Meine.
Ich lege Matte, Decke und mich ab. Atmung funktioniert. Durchatmung passe ich dem Umstand an.
Kaum hat Zazi uns begrüßt, belebt sich die “IMPORTANT NOTE” wieder. Es gibt n Video, 15 Minuten lang, das mensch vor dem Kurs schauen sollte. Das Fruchtfleisch verkrampft sich und rollt den ganzen Tand schon wieder zusammen. “Without works as well, aber mit wäre halt schon geiler. Next time.”
Also gut. Kurzes Ankommen, meditieren.
Bevor es losgeht, noch die Ansage, dass Schnarcher sanft aus dem Schnarch geholt werden sollen. Kann ich und werde ich können müssen, weil mein Mattennachbar nach 3 Minuten der ganzen Bekommt-der-Luft?-Leg-dich-doch-bitte-anders-hin-Sanitäter-holen?-Wirklich,-genau-der-neben-mir?-Schisselameng unterliegt.
Ich rühre mich und berühre seine Schulter. Er nickt, sich wieder fangend, nach oben, ohne die Augen zu öffnen. Coolness-mäßig platzt die Stadt, safe, aus allen Nähten.
Wir tauchen ab.
Und wie jede gut erzählte Geschichte gibt's auch hier n Thema für die Stunde.
Das Schnarchen neben mir is jetzt auch endlich verebbt und der Raum liegt so ruhig da, dass man Schnee fallen hören könnte
N Thema also: Abgrenzung und damit verbundenes Inner Child Work. Das klingt gut, das klingt nach Umarmung, Schreien, Weinen, Vertrauensverlust und Elegien in irgendeiner Moll-Tonart.
Wir sollen uns an das obere Ende einer Treppe stellen. Die Frage nach “bekannt oder unbekannt?" hat hier wirklich nichts zu suchen. 12 Stufen gibt es, dann lauert da ne Tür. Was dahinter ist, bleibt ungesagt. Erstmal im Takt die 12 Stufen runter. Zazi zählt und wir folgen ihr blind.
Kurz vor der 10 sollen wir uns unseren Happy Place vorstellen. Und da kommt jetzt die “IMPORTANT NOTE” ins Spiel. Happy Place vorbereiten, ausmalen und vorzeigen, wenn man ihn sehen will. Jetzt is da halt ne halb ausgemalte Leberwurst zu sehen. Vegan zwar, aber das muss doch nich sein.
Ich spinn mir also auf den letzten zwei Stufen nen Ort zusammen, der das Wort “Happy” wenigstens einigermaßen umreißt.
Ein kleiner Hügel, ne Wiese, mit menschhohen Gräsern, blauer Himmel, in der Ferne ein kauziges Häuschen, aus dessen Schornstein Rauch kommt. Im Sommer ergibt das weniger Sinn, aber is ja auch mein Happy Place. Alles wirkt, als wäre es mit Wachsmalstiften gemalt. Ein wenig Heidi-Charme, ein wenig “2. Klasse, in der letzten Stunde BK und nich mehr so richtig Bock gehabt”-Romantik.
Schritt 11.
Ich puste noch n paar Schaumwolken an die Lapislazuli-Kuppel (danke, David Foster Wallace) und geb dem Ort noch nen Namen: Happy_Place_new.png. Hätte ich auch weglassen können, aber so liegt das dann nich irgendwo, unbenannt im Kopf rum.
Schritt 12.
Angekommen. Die Türe baut sich monolithisch vor mir auf. Ich stehe am untersten Teil der Treppen, die zum Keller meiner Großeltern führen. Ich hinterfrag das bedingt. Wieso gerade dort, wieso diese Enge und wieso nichts Led Zeppelin untermaltes (wegen Stairway to heaven)?
Hat hier jetzt aber alles nichts zu suchen. Wir sollen die Türe öffnen und eintreten. Direkt dahinter breitet sich dann auch schon meine Lustiglaunige/Wachsmal-Schäfchen-Idylle aus.
Ich lass mich direkt in die wachsweichen Wiesengräser fallen und werde komplett verschluckt. Ich drehe mich hin und her, atme den Geruch ein und schaukle mich nach oben. Alles is so in etwa, wie ich es erbaut hab. Es fühlt sich sicher an, es fühlt sich plastisch an. Ein paar Pinselstriche hätte es noch vertragen, aber das muss so jetzt fürs Erste reichen.
Ne neue Anweisung von Zazi schafft es irgendwie zu mir:
Bitte mal versuchen, eine Situation in der Kindheit/Jugend zu finden, bei der definitiv keine Abgrenzung stattgefunden hat, dafür jetzt, mit meiner erwachsenen Hilfe, Abhilfe geschaffen werden könnte.
Ich tauch weiter ab, finde ne Situation und male mich mit dem pinkesten Wachsmalstift in die Ecke meines Kinderzimmers.
Etwas geht zu Bruch, Schwester weint, Mutter kommt ins Zimmer, nimmt deshalb etwas von mir, das definitiv unersetzbar ist, und zerschmettert es vor meinen Augen. Meine Erinnerungen schmücken diese Aktion mit dem Wort Genugtuung aus. Mag so sein, mag so nicht sein. Ist auch einerlei.
Bevor der 7-Jährige nun vergisst, die Feststelltaste seines Rage-Modes wieder auszustellen, freeze-framed Zazi diesen Bilderbuchmoment.
Kleines Ich und jetziges Ich können kurz miteinander in den Austausch gehen, alle anderen bewegen sich nicht mehr.
Hab das Gefühl, als ich ihn kurz in den Arm nehme und frage, wie’s ihm gerade geht und was ich tun kann, schleichen sich schon wieder n paar Tränen davon.
Wir diskutieren, ich höre ihm zu, werde an seiner statt wütend. Am Reißbrett der Angst glimmen die Kohlen der Wut am stärksten.
Freeze-Frame wieder vorbei. Ich hab die Angst noch nich ganz verstanden, werf mich aber mit aller Wut auf die Erwachsene: “Who the FUCK do you think you are? Er is halt 7, du..”
Die Abgrenzung findet hier ihren Weg durch grenzenlose Rage und ausufernden Hass. Ein Konfrontations-based Cleanser für die Seele; dagegen sieht selbst Korean Skincare kein Land.
Jetzt dann also ein Serum und ne Feuchtigkeitsspendende Crème.
Dafür nehm ich den Kleinen mit zu meinem/unserem Heidi-Hügel, der inzwischen ins Pastellige evolviert ist. Weniger grell, mehr Weichheit.
Ich setz ihn neben mich und wir unterhalten uns über die Wolken, den Schornsteinrauch im Sommer (why?) und dass er mich immer rufen kann, wenn es mal wieder zu viel und unfair wird.
Zazis Stimme schwebt schwach auf unsere Wiese. Langsam holt sie uns aus unserem somnambulen Nachtflug zurück. Ich verabschiede mich, so kurz und bündig wie es geht.
Wir umarmen uns, der Kleine geht zurück in sein Kinderzimmer und ich schwimme bedächtig ins SHA-LA Studio.
Wieder ist die Stimmung anders. Ich war nicht so tief in mir, wie bei der CRY-Session damals, aber ich hab die Verbindung zu mir deutlich gespürt.
Nochmal durchatmen und langsam wach werden.
“You have a beautiful and positive energy” wird mir beim Hinausgehen gesagt. Nehme ich gerne an und gebe es gleichsam zurück.
Matte aufhängen, Matte verabschieden, Matte zurücklassen. Ich hol meine Habseligkeiten aus dem frechen Sports-Locker und schau mich noch mindestens ein schelmisches dutzend Mal zur Dame mit der beautiful energy um.
Dann raus. In die kunterbunte Nacht.
Fahrradschloss-Verschluss aufgedreht, aufgesessen und auf geht's. Ich schweife mit melodischem Harmonie-Garn Richtung Humboldthain und verwebe dabei Prenzlauer Berg und Wedding miteinander. Im Dunkel verwehen die Unterschiede sowieso, alles ist im Einklang, alles ist Euphorie.
Die Flure sind jetzt leergefegt. Die letzte Stunde ist sehr lang her.
Die Tristesse der 3. Stunde ist dem Nachgewimmel gewichen. Und da: Im flirrenden Schatten der Nacht komme ich endlich bei mir zuhause an.
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