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// Ein Augenblick der Imagination – 1/2.


Die grelle Melodie des abkühlenden Tageslärms sucht sich ihre verdienten Ruhemomente. Zwischen Leuchtstäben und nassem Asphalt erheben sich ihre flüsternden Rufe nach seichter Turbulenz. Ich wandle durch reflektierenden Straßen und bemerke Lichter, die nicht mehr sind, sich im Dunst der Einsamkeit aufgelöst haben. Durch beschlagene Scheiben dringen sich bewegende Silhouetten hindurch. Ich ertappe mich mit dem Wunsch, das Gesicht näher zu drücken und sie zu beobachten, sie zu bewerten. Jäh zieht mich der Motor eines vorbeiziehenden Wagens aus der Trance. Mal wieder bin ich auf einem irritierend einfachen Weg. Ihn nicht zum ersten Mal durchlaufend, entdecke ich trotz der Routine fliehende, neue Schimmer, welche meine Schritte unterhaltsamer machen als sonst. Aufmerksam betrachte ich das rege Treiben in den Gebäuden, finde mich schnell zurecht und dichte den Menschen im Inneren neue Identitäten und unausgesprochene Dialoge an. Sie bemerken mich nicht. Wissen nicht, dass ich mich an ihnen als Dichter einer neuen Realität versuche. Was wäre wenn sie mir auf die Schliche kämen? Würden sie mich korrigieren und dadurch diese gerade ins Leben gerufene Realität trüben? Könnten sie mir gar zustimmen und sich dieser Realität annehmen? Und so – ach, du liebes, lesendes Leserlein - beginne ich: Vermutlich ein Arzt im besten Alter, der sich zu einem alleinstehenden Lidl-Kassierer machen lässt. Sein Hausboot tauscht er gegen einen Tretroller ein und seine Frau gegen eine Dating-App. Würde er sich geschmeichelt fühlen oder etwa verraten? Würde er sich fragen, wieso er diesen Eindruck erweckt oder eher warum ich ihm diese Biografie anhängen will – ist beides nicht mehr oder weniger reziprok? Andersherum bleibt zu klären: Was sind MEINE Beweggründe ihm das anzudichten? Langeweile? Subjektive Beobachtung, die aus der Langeweile heraus entsteht? Welche Erfahrungen aus meinem Leben, meinem Selbst, stecke ich in die Charakterentwicklung des 46-jährigen Lidl-Doktors? Welche Vorurteile verbergen sich darin oder welche Erfahrungen habe ich mit dem einen und dem anderen? Lade ich eines negativer auf als das andere? Und was gibt mir das Recht so wertend mit jemandem umzugehen?

Ich frage mich all das, während sich der Mann den Mund abwischt und nach der Rechnung fragt. So bitten doch nur Lidl-Mitarbeiter nach einer Rechnung, ganz klar. Er zahlt, während ihm ein Teller samt Glas abgetragen werden und er einen 50€-Schein hinlegt. „Stimmt so!“, lese ich im ganz deutlich von seinen Lippen ab. Sein buschiger Oberlippenbart gibt ihm einen sehr zutraulichen Charakter – vielleicht doch ein Arzt? Das Tweed-Jäckchen herrichtend steht er auf, wandelt anmutig zur Türe und tritt ins kühle Außen. Vom Wetter überrascht schlägt er seinen Kragen hoch und läuft Richtung U-Bahn. Ich schaue auf. Auf zum hellen Nachthimmel. Er scheint recht uninteressiert an meinen Blicken und lässt mich ruhig weiter schlendern. Kurz vor der U-Bahn erblicke ich ein Restaurant, gucke hinein und beginne erneut: „Diese Schwaben sind doch auch wirklich überall!“

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