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// Der disruptive Ödipus


„Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit.“ – Eine seinerzeit konstatierte Sentenz Goethes, nachdem er einige Landschaftsgemälde Claude Lorrains beschauen durfte.

Meine Aufgabe, als designierter Schreiber dieser Fiktion, ist es, die Realität ihrer Wahrheit zu berauben, sie herauszuschälen aus ihrer Beengung. In meinen Erinnerungen stöbern, Gesehenes und Gehörtes zu reflektieren und kleine Abänderungen daran vorzunehmen. Würde ich alles so stehen lassen, wäre es keine reine Fiktion. Jedoch, so denke ich es, gibt es die reine Fiktion ohnehin nicht. Bei der Herausschalung aus der Realität bleiben Krümel von selbiger hängen und untermalen oder unterspülen die Fiktion. Aber, wer sagt dir, zutrauliches Leserlein, dass im Folgenden etwas hinzu- oder hinweggedichtet wurde? Was müsste geschehen, damit meine Aufgabe als erfüllt erlebt wird?

Das Spiegelbild im kalten Bad warf ihm seine Fratze würgend entgegen. Er starrte ratlos dagegenan, was an allem nichts änderte. Die rechte Wange wies eine klaffende Wunde auf, über die er mit Mittel- und Zeigefinger strich. Er drehte diesen Makel noch näher an die Reflektion und atmete ein mattes „Scheiße“ aus. Der Spiegel beschlug und er drehte sich wieder zurück. Hinter ihm klingelte es an der Haustüre. Das machte aber nichts. Das tat es öfter. Und öfter, meist immer, ignorierte er dieses Big-Ben-Läuten, das noch die Idee von Claudia war. „Dann fühlen wir uns, als wären wir in London. Wie ein Sir und eine Lady“, waren die gänzlich uninspirierenden Worte im Klingelfachgeschäft in der Heyse-Allee. Graues Haus, Holztür. Aus den 60ern. Kotzhässlicher Bau. Nunja. Irgendwann schlug Big Ben das letzte Mal. Sein unrasiertes Gesicht, ein von Gezeiten gegerbtes Bauarbeitergesicht Marke Schwerstarbeit, machte noch ein paar Zucker. Augenlid, Stirn, Kinn. Dann zog er sich das verschmierte T-Shirt aus, kickte die Schuhe gegen die Fliesen der Wand und öffnete Gürtel und Knopf. Die Dusche – sein Allheilmittel, sein Taufbecken für eine bessere Welt danach – schickte ihre ersten Tropfen. Kurz darauf stand er mit geneigtem Kopf, beide Hände gegen die Wand gepresst, da und ließ sich, mit der beseelten Ruhe eines wogenden Weizenfeldes, von ihnen durchziehen. Erst warm, dann 40 – 45 – 47 Grad. Der Raum war nun, nach tagelanger Abstinenz, wieder ein hydriertes Fest für neptunesischen Klamauk. Er griff sich die Seife aus der Halterung, rieb sich den Körper ein, fuhr mit ihr durch die Haare. Schaum verdeckte den Schmutz, umfing den Makel und in plätschernden Rinnsalen verschwand alle Erinnerung an den Abend in dem kleinen Loch am Boden. Vermischt mit dem klaren Wasser der Brause stürzte es in sympathischer Harmonie einem neuen Engagement entgegen. Er drehte das Wasser aus. Handtuch hing links. Schnell, und schon oft gemacht, rieb er sich trocken. Den beschlagenen Spiegel wischte er frei, schaute hinein. Besser. Aber bei weitem nicht gut. Draußen ging schon wieder das Big-Ben-Geläute los. Dieses Mal rief jemand. Es klang dringend, aber nicht dringend genug. Zudem zu dumpf und abgemagert. Er setzte sich auf die offene Kloschüssel und begann zu kacken. Ein majestätischer Schauer rann durch ihn hindurch. Bedeutsam, gewaltig. Weitaus nährender, als das immer stärker werdendere Klopfen an der Haustüre. Es klang nach mindestens vier bis fünf Leuten. „Komme ja gleich“, sagte er vor sich hin. Keineswegs hörbar für das Gesindel vor seiner Türe. Das wäre ja noch schöner. Beim Kacken gestört werden ist Majestätsbeleidigung. Das muss Konsequenzen haben. Er putzte ab, spülte und machte den Deckel zu. Eine HB angesteckt und dieses Mal setzte er sich auf die geschlossene Toilette. Von Draußen hörte er das Aufbrechen seiner Haustüre. Bei seinem dritten Zug hörte er ein „Polizei!“. Dachte er. Er zog seinen vierten Zug. Beim Aushauchen sagte er „Komme“. Er griff hinter sich in den Klotank und holte eine Plastiktüte mit einer Glock 45 Crossover aus ihrem Bad. Es folgte harsches Klopfen an die Badezimmertüre. „Polizei!“ und „Aufmachen!“ rief da jemand. Er schob sein blutiges T-Shirt auf dem Boden zur Seite. „Mutter liegt im Schlafzimmer“ sagte er in ruhigem Ton zu den Leuten vor seiner Badezimmertüre. Dann lud er durch. Dann wurde die Türe eingetreten. Dann war die Geschichte aus.

Ich habe versucht, so gut und so sinnvoll es mir erschien, Anpassungen an einne eventuelle Begebenheit, wie jene, eben gelesene, zu machen. Wie gesagt, reine Fiktion ist Unsinn. Auch hier ist es eine Melange aus Realismus, Fantasie und gesunden Schlucken antibiotischen Hustensafts, dem es prächtig gelang, die Kehle mit heißen Kohlen zu benetzen. Und die Sinne auf erträgliche Weise zu weisen. Was hier nun wahr und was erfunden ist, das überlasse ich ausschließlich dir, es für dich zu rationalisieren. Einen Unterschied am Geschriebenen wird es keineswegs machen. Eine Änderung wird ausschließlich in dir, anhand deiner Reflexion, geboren und manifestiert sich unter Umständen in deiner Freude, deiner Abneigung oder deinem Unglauben respektive Glauben hin zu meiner kleinen Erdenkung.

Letztendlich werden die Fiktion und der Realismus dieses Texts in absehbarer Nähe ohnehin ineinander verlaufen und da das Geschriebene keinen weiteren Einfluss auf dein Leben haben wird, wünsche ich dir hier nun ein elegantes Fortschreiten in diesem. Zerdenke das Ganze nicht zu sehr. Wie könnte ich diese Geschichte denn auch kennen. Ich war ja gar nicht dabei. Oder?

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