// Die Vergessenen der Großstadt.
- Michael Schuster
- 28. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Wechselgeld gibt's hier nich, hat hier auch nichts zu suchen. Du hast mit Karte bezahlt und jetzt: verpiss dich.
Die 12 Herrengedecke in der letzten Stunde brechen ihm jetzt ungeschönt aus der Visage. Er kriegt grade noch so die Karte zurück in sein Sakko gesteckt, bevor die Tür ihn nach draußen kotzt.
Da sucht er erst mal Halt. Nen Vorbeischlendernden, der ihn direkt abwirft. Dann ne altersmüde, ausgetretene Straßenlaterne. Die hält ihn fest und lässt ihn freimütig kotzen.
Eine Hand am stützenden Brennstab, die andere am Oberschenkel.
Ich schau ihm zu, mitleidig, vorwurfsvoll, neidisch.
Mein halbleeres Glas winselt mir zu. Ich trink aus.
Das Bier schmeckt hier wie Asseln oder Kakaduscheiße. Aber es hält warm und macht vergesslich. Das wollen die Meisten doch. Brechreiz im Austausch gegen Halt und Vergessen.
“Alle Lust will Ewigkeit.” Und ewig gibt's die ganzen Gestalten hier sowieso nich mehr. Das Sprüchlein is nich von mir. Das kam vom Pointenklatscher Nietzsche.
Ich steh auf, bezahl (mit Karte) und drück mich durch die Glastür nach draußen.
Alles klar bei dir, Kumpel?
Er hängt an der Laterne wie n Papierstrohhalm nach zwei Longdrinks.
Sein beschissener Abend nimmt undankbaren Abschied von ihm.
Hey, brauchste Hilfe?
Ich wiederhol den Satz nochmal, als wär ich n Dämlicher.
Der Kotzmann putzt sich den Mund mit ner dreckigen Zeitung vom Boden ab, grummelt “ ‘s geht schon, Mann” ohne sich umzudrehen. Hinter mir scheppert die Türe wieder auf. Raus strömt ne Saxophon-Film-Noir-Melodie: “Harlem Nocturne” von Sam Taylor. Sets the mood for the night — sets the mood for everything.
Jetzt fehlen nur noch Sätze wie “Wie groß is n dein Kofferraum” und “Passt da n Mensch rein?” und wir tauchen in nen lausigen Brian-de-Palma-Film ab.
Ich lauf weiter. Komme 5 Meter weit.
Ey, haste ne Zigarette?, krächzt der Kotzer.
Ich kram in der Tasche rum. Eine. Eine is da noch.
Sackgesicht.
Sicher, press ich durch die Zähne, tanz den 180er und lauf zurück.
Er nimmt den Stängel und steckt ihn zwischen die verkotzten Lippen.
Gibt's auch Feuer?
Sollte sie ihm direkt wieder rausprügeln, aber wo kämen wir da hin mit der Gesellschaft und dieser ganzen Nächstenliebe-Scheiße.
Ich hol n Zippo aus der Hosentasche und halt ihm die Flamme unters Gesicht.
Eine vom Leben gebeizte Visage erscheint.
Müde schaut er auf das Benediktum des Tabaks.
Er zieht und schon steht die Glut in vollem Saft.
Einatmen,
auspusten.
Wer bist n du?
N Typ ohne Zigaretten.
Willste mal ziehen?
Behalt die mal bei dir, da is Kotze dran.
Zwei, drei weitere, kräftige Züge und die Lunge weint ihr Hallelujah.
Die Augen füllen sich mit Wasser, dann lässt er alles raus.
War ne fiese Woche. War n fieser Monat, kannste mir glauben.
Seine Stimme klingt ertrunken, als wäre da keinerlei Substanz mehr, wovon sie sich ernähren könnte.
Montag aus der Wohnung geflogen.
Hatte auf n Wunder gehofft, aber die Stadt hält keine Wunder mehr bereit. Nur leergesoffene Flaschen Whisky und Rechnungen, die sich stapeln wie unbezahlte Sünden.
Hinter uns rumpelt ne Mülltonne. Straßenköter oder Mensch, schwer zu sagen. Im Dunst der Großstadt sah doch alles gleich aus, wenn es nur lange genug im Dreck lag.
Haste was zum Pennen für heute Nacht?
Wohl kaum. N paar Taler für n Freudenhaus und die Hoffnung, dass sie mich dann in ihrer Wanne pennen lässt.
Aus dem Schatten schält sich jäh irgend ne Fratze und stolpert auf uns zu. Brille, markante Statur. N Mantel, der viel zu sauber und teuer für die Gegend is. N Blick, als wüsste er, wo’s Leben lang geht. Er sieht mich an, als hätten wir ne Verabredung, von der ich nichts wusste. Kann mich aber auch irren. Is menschlich und passiert mir in letzter Zeit häufiger.
Der Mantel läuft vorbei und überlässt die triefende Nacht wieder uns.
Kannst auch bei mir pennen. Wanne hab ich nich, aber n Fußboden. Verpflegung gibt's nich, aber ne Decke treib ich dir irgendwo auf.
Er zieht kräftig an seinem Lungenzünder, bevor er antwortet.
Ich schau zu, wie der Rauch sich langsam im Ungreifbaren verliert, verformt und am Ende nur noch die Schwärze der Nacht übrig bleibt. Bin ja fast versucht selber an dem Kotzestängel zu ziehen, aber meine bröckelnde Würde hält mich ab; mal sehen wie lange noch.
Warum biste denn so großzügig?
Ich überlege, kurz, der Matsch im Kopf kommt in Bewegung. Hat schon seine Gründe.
Scheiße, is das wichtig? Du wirkst wie n armer Tresenphilosoph und Stammgast ohne Zukunft. Kannste jetzt annehmen oder auch lassen. Ich hab gerade n guten Moment.
Die Nacht schwitzt sich in den Schlaf und wir stehen da, wie ausgetretene Capri-Sonnen. Ausgelutscht vom Leben und sonst(noch)was.
Alles klar, wo wohnste denn?
3 Straßen rauf und dann bei Dortscheks Kneipe nebenan.
Kotz-Hässliche Gegend da. Sogar noch räudiger als die ganze Brühe hier.
Wieder klappt die Tür hinter mir auf. N neuer Song schmiert die Kneipe mit vibrierendem Moll-Blues zu und dämpft die Ausweglosigkeit der Trinker für n paar Momente. Da müssen sie nich denken, da müssen sie gar nichts.
Scheißnacht, meint der Typ, den Glimmer stoisch im Mund
Ich nicke. War sie.
Aber jetzt: halt dein Maul und raff dich auf. Vielleicht gibt's bei Dortschek noch n Absacker, der das ganze Elend erträglicher macht.
Ich stütz ihn am Arm und er kommt stöhnend hoch.
Rücken gerade, Brust raus. Zeig n bisschen Haltung, tu wenigstens so.
Wir schleichen den Asphalt entlang, 3 Straßen rauf, dann zu Dortschek.
Ich bleib stehen, dreh mich nochmal um. Vollgekotzter Boden, ausgetretene Lichter inmitten ausgetretener Zukunftsfantasien. Mensch und Hund gleich auf. Diese Gegend hat’s in sich, is nur was für die Nicht-schüchternen und Vergessenen.
Ich zerr den Typen wieder mit.
Komm, noch 2 Straßen rauf, dann zu Dortschek.
Wahrscheinlich hat der aber eh schon zu.
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